Interview: Das Farbenspiel von Hilden

Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, als Maria zum dritten Mal den Umschlag öffnete und den Brief herausnahm. Das Papier war bereits an den Faltkanten durchscheinend. Die Nachricht ihrer Mutter war klar: Das Haus, in dem Maria aufgewachsen war, sollte verkauft werden. Drei Monate hatte sie Zeit, um es herzurichten. Drei Monate, um sich von einem Leben zu verabschieden.

Der ICE rauschte durch die verregnete Landschaft des Rheinlands. Bald würde sie in Hilden sein, der Stadt ihrer Kindheit. Eine Stadt, die sie vor fünfzehn Jahren verlassen hatte, mit dem festen Vorsatz, nie zurückzukehren. Und nun das.


„Es ist schlimmer als ich dachte“, murmelte Maria, als sie durch die leeren Zimmer ging. Die Tapeten hatten sich an den Ecken gelöst, der Parkettboden war an mehreren Stellen aufgequollen, und der Geruch von Feuchtigkeit hing in der Luft. Die Traurigkeit, die der Ort ausstrahlte, legte sich wie ein schwerer Mantel auf ihre Schultern.

In der Küche fand sie einen Stapel vergilbter Zettel. Handwerker, die ihre Mutter offenbar noch kontaktiert hatte. Ganz oben auf dem Stapel lag ein bunter Flyer: Maler Döge – Ihr Experte für professionelle Malerarbeiten und Raumgestaltung.

Maria seufzte. Sie würde wohl mehrere Angebote einholen müssen. Der Verkauf sollte schließlich so viel wie möglich einbringen.


Am nächsten Morgen stand Herr Döge vor ihrer Tür. Ein hochgewachsener Mann Ende fünfzig, mit wettergegerbtem Gesicht und einer ruhigen Ausstrahlung, die Maria sofort Vertrauen einflößte.

„Das ist aber ein Projekt“, sagte er, nachdem er durch alle Räume gegangen war. Seine Stimme klang nicht abschreckend, sondern eher anerkennend. „Wissen Sie, in diesen alten Häusern steckt eine Seele. Man muss sie nur wieder zum Vorschein bringen.“

Maria lächelte schwach. Die Seele dieses Hauses war für sie mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden.

„Ich würde Ihnen gerne einen Kollegen vorstellen“, fuhr Döge fort. „Für die speziellen Stuckarbeiten im Wohnzimmer brauchen wir jemanden mit besonderem Geschick. Malerbetrieb Hilgers ist genau der Richtige dafür. Und für die Außenfassade empfehle ich Malermeister Krieger. Die drei von uns arbeiten bei solchen Projekten oft zusammen.“

Maria hob überrascht die Augenbrauen. „Empfehlen Sie mir gerade Ihre Konkurrenz?“

Döge lachte herzlich. „In Hilden sind wir keine Konkurrenten, sondern Kollegen. Jeder hat seine Spezialität. Gemeinsam bringen wir das Beste heraus.“


Die folgenden Wochen vergingen wie im Flug. Die drei Malermeister arbeiteten tatsächlich Hand in Hand. Döge kümmerte sich um die Innenräume im Obergeschoss, Hilgers um die dekorativen Elemente im Erdgeschoss, und Krieger verwandelte die vernachlässigte Fassade in ein wahres Schmuckstück.

Maria, die ursprünglich nur sporadisch nach dem Rechten sehen wollte, blieb länger als geplant. Sie bezog das kleine Gästezimmer im Dachgeschoss, das als erstes renoviert wurde. Von dort aus beobachtete sie die Verwandlung des Hauses.

Es war seltsam. Mit jedem Pinselstrich, mit jeder reparierten Stelle schien nicht nur das Haus, sondern auch etwas in ihr selbst zu heilen.

Eines Abends saß sie mit den drei Handwerkern in der halbfertigen Küche. Sie hatten improvisierte Sitzgelegenheiten aus Farbeimern geschaffen und teilten sich eine Pizza.

„Warum arbeitet ihr so gut zusammen?“, fragte Maria zwischen zwei Bissen. „Das ist doch ungewöhnlich, oder?“

Die drei Männer tauschten Blicke aus.

„Wissen Sie“, begann Döge, „vor zwanzig Jahren wollte jeder von uns der Beste sein. Wir haben uns unterboten, schlecht übereinander geredet, typischer Konkurrenzkampf eben.“

„Und dann?“, hakte Maria nach.

„Dann kam das große Hochwasser“, erklärte Hilgers. „Halb Hilden stand unter Wasser. Plötzlich gab es so viel zu tun, dass keiner von uns es alleine schaffen konnte.“

„Also haben wir uns zusammengetan“, ergänzte Krieger. „Notgedrungen zunächst. Aber wir haben schnell gemerkt, dass wir gemeinsam nicht nur mehr, sondern auch bessere Arbeit leisten.“

Maria nickte langsam. Sie verstand. Manchmal brauchte es eine Katastrophe, um zu erkennen, was wirklich wichtig ist.


In der letzten Woche vor ihrer Abreise stand Maria im fertigen Wohnzimmer. Die Wände strahlten in einem warmen Cremeton, der Stuck an der Decke war akribisch restauriert worden, und durch die frisch gestrichenen Fensterrahmen fiel das Sonnenlicht in einem ganz neuen Winkel herein.

„Wir sind fertig“, sagte Döge, der neben sie getreten war. „Was meinen Sie?“

Maria schwieg lange. Das Haus sah wunderschön aus, schöner als je zuvor. Es würde einen guten Preis erzielen. Aber seltsamerweise war das nicht mehr wichtig.

„Ich verkaufe nicht“, sagte sie schließlich leise.

Döge lächelte, als hätte er es geahnt. „Die Farben haben mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?“

Maria nickte. Die Farben, die Räume, die Erinnerungen – alles hatte eine neue Bedeutung bekommen. Die schmerzlichen Erinnerungen waren nicht verschwunden, aber sie hatten ihren Schrecken verloren. Sie waren nun eingebettet in etwas Größeres, etwas Helleres.


Ein Jahr später öffnete Maria die Tür ihres Hauses für eine Gruppe junger Künstler. Der große Raum im Erdgeschoss, einst das bedrückende Arbeitszimmer ihres Vaters, war nun ein lichtdurchflutetes Atelier. Die Künstler, die sonst nirgendwo in Hilden bezahlbare Arbeitsräume fanden, konnten es zu einem symbolischen Preis nutzen.

An der frisch gestrichenen Wand hing ein kleines Schild:

„Dieses Atelier wurde möglich gemacht durch die Zusammenarbeit von Maler Döge, Malerbetrieb Hilgers und Malermeister Krieger – den Farbgebern von Hilden.“

Maria lächelte, als sie an dem Schild vorbeiging. Manchmal brauchte es eben mehr als einen Pinsel, um ein Leben neu zu streichen.

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