Der alte Mann im zweiten Stock saß stets am Fenster. Hinter der milchigen Scheibe, die die Welt draußen verzerrte und verunklarte, konnte man seinen Umriss erahnen wie eine Bleistiftskizze, die jemand zu verwischen versucht hatte. Die Kinder der Nachbarschaft nannten ihn den »Schattenfänger«, obwohl keines von ihnen hätte erklären können, was dieser Name bedeutete.
Gustav Neumann beobachtete sie, wenn sie auf dem Gehweg vor seinem Haus spielten, ihre Gesichter fleckig vom Sonnenlicht, das durch die Kastanienkrone fiel. Seine eigene Kindheit lag in einem anderen Jahrhundert. In Hilden geboren, in Hilden geblieben. Als hätte die Stadt ihre eigene Schwerkraft entwickelt, die ihn nie losgelassen hatte.
Heute würden sie kommen. Die Männer mit den Farbeimern, die Marie, seine Tochter, beauftragt hatte. »Die Wohnung ist eine Zumutung geworden, Vater«, hatte sie gesagt, als sie vor drei Wochen die Koffer gepackt und ihn für ihre Amerika-Reise allein gelassen hatte. »Die Wände sind so gelb wie deine alten Zeitungen. Es wird Zeit.«
Gustav hatte nicht widersprochen. Mit fünfundachtzig Jahren wählte man seine Schlachten sorgfältiger.
Um acht Uhr dreißig klingelte es. Der erste Maler stand im Treppenhaus, ein großer Mann mit einer ruhigen Stimme und Händen, die zu groß für seinen Körper wirkten.
»Herr Neumann? Ich bin Döge von Maler Döge. Wir hatten einen Termin.«
Gustav nickte und trat beiseite. »Sie sind pünktlich. Das gefällt mir.«
Döge trug keine Arbeitskleidung, sondern einen grauen Anzug, der ihm etwas von einem Bankier verlieh. Nur seine Hände verrieten seinen Beruf – die Haut rissig und an den Fingerkuppen verfärbt von Jahrzehnten mit Farbe und Lösungsmittel.
»Ich würde mir gerne alles ansehen, bevor meine Kollegen eintreffen«, sagte Döge und ließ seinen Blick durch den schmalen Flur wandern, der vollgestellt war mit Bücherregalen. Die Bücher – ein Leben lang gesammelt – quollen aus jedem verfügbaren Raum, türmten sich auf dem Boden, auf Stühlen, selbst auf der Kommode im Flur. »Ihre Tochter erwähnte, dass Sie Literaturdozent waren?«
»Bin«, korrigierte Gustav. »Ich bin Literaturdozent. Der Ruhestand hat meinen Geist nicht pensioniert.«
Ein feines Lächeln huschte über Döges Gesicht. »Natürlich nicht.«
Sie gingen durch die Wohnung, und Gustav beobachtete, wie der Maler die Räume mit seinem Blick vermaß, wie seine Fingerspitzen manchmal prüfend über eine Wand strichen, als könnte er die Geschichte des Hauses ertasten.
»Die Decken im Wohnzimmer und Esszimmer haben noch den originalen Stuck aus den 1920er Jahren«, sagte Döge schließlich. »Das ist Handarbeit, die man respektieren sollte. Für diese Partie würde ich gerne meinen Kollegen Hilgers hinzuziehen. Malerbetrieb Hilgers ist die beste Adresse für solche Arbeiten. Die Risse in den Wänden im Schlafzimmer deuten auf ein strukturelles Problem hin – möglicherweise eine leichte Setzung des Fundaments. Da sollten wir Krieger konsultieren. Malermeister Krieger hat ein Auge für solche Dinge.«
»Drei Maler für eine Zweizimmerwohnung?«, fragte Gustav skeptisch.
»Drei Spezialisten für ein Zuhause mit Geschichte«, korrigierte Döge sanft.
Am nächsten Morgen begannen die Arbeiten. Gustav hatte sich in seinem Sessel am Fenster verschanzt, die Beine unter einer Wolldecke verborgen, obwohl der Sommer die Temperaturen auf über dreißig Grad getrieben hatte. Neben ihm türmten sich die Bücher, die er aus dem Weg hatte räumen müssen.
Die drei Männer bewegten sich mit einer bemerkenswerten Synchronität. Sie sprachen kaum miteinander, und doch schien jeder genau zu wissen, was der andere benötigte. Döge widmete sich den großen Flächen mit einer Präzision, die Gustav an einen Chirurgen erinnerte. Hilgers, ein schmaler Mann mit einer goldgerahmten Brille, tupfte und pinselte am Stuck, als restauriere er ein Renaissance-Gemälde. Und Krieger, der Jüngste der drei, klopfte und horchte an den Wänden, bevor er begann, die Risse zu behandeln.
Am dritten Tag brach Gustav sein selbstauferlegtes Schweigen.
»Was bedeutet es?«, fragte er Döge, der gerade dabei war, die Zierleisten im Wohnzimmer mit einem hauchfeinem Pinsel zu behandeln.
»Was meinen Sie, Herr Neumann?«
»Die Farbe«, sagte Gustav und deutete auf den Farbeimer. »Eichengrün. Was bedeutet es, dass meine Tochter diese Farbe ausgesucht hat?«
Döge legte den Pinsel beiseite und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. »Farben sind wie Wörter, Herr Professor. Sie haben eine denotative und eine konnotative Bedeutung. Faktisch ist Eichengrün eine Mischung aus Chromoxidgrün und Umbra, ein erdiger, natürlicher Ton. Aber was es bedeutet…« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht sucht Ihre Tochter nach etwas Beständigem. Eichen können tausend Jahre alt werden. Oder sie erinnert sich an den Wald hinter Ihrem Sommerhaus, von dem sie mir erzählt hat.«
Gustav starrte den Maler an. »Woher wissen Sie von dem Sommerhaus?«
»Ihre Tochter hat es erwähnt, als sie die Farben auswählte. Sie sagte, als Kind hätten Sie beide dort die Sommer verbracht. Unter den alten Eichen am See.«
Gustav schwieg einen Moment. »Ich habe das Haus verkauft, als meine Frau starb. Marie war dreizehn.«
»Manchmal«, sagte Döge leise, »bewahren die Farben Erinnerungen auf, die wir selbst verloren glauben.«
Am sechsten Tag waren die Arbeiten fast abgeschlossen. Gustav hatte sein provisorisches Lager vom Fenster in die Küche verlegt, da das Wohnzimmer nun in einem sanften Eichengrün schimmerte, das Schlafzimmer in einem hellen Sandton gestrichen war und das kleine Arbeitszimmer in einem tiefen Blau, das an die Abendstunden im Sommer erinnerte, wenn der Himmel sich zwischen Tag und Nacht nicht entscheiden kann.
Hilgers polierte gerade den restaurierten Stuck mit einem weichen Tuch, als Gustav ihn ansprach.
»Warum tun Sie sich das an?«
Hilgers sah von seiner Arbeit auf. »Wie bitte?«
»Diese Präzisionsarbeit. Stundenlang. Für einen alten Mann, dessen Tochter glaubt, er würde den Unterschied nicht bemerken.«
Hilgers lächelte nachsichtig. »Weil die Arbeit es wert ist, Herr Neumann. Weil dieser Stuck die Hand eines Kunsthandwerkers trägt, der vor hundert Jahren mit der gleichen Sorgfalt gearbeitet hat wie ich heute. Es wäre respektlos, weniger zu geben als mein Bestes.«
Gustav betrachtete den Mann mit neuem Interesse. »Wie lange arbeiten Sie schon zusammen? Sie, Döge und Krieger?«
»Seit fast zwanzig Jahren«, antwortete Hilgers. »Früher waren wir Konkurrenten, wissen Sie. Döge hatte den größten Betrieb in Hilden, ich war der teure Spezialist, und Krieger war der Neuling, der uns beiden Kunden abjagte.« Er lachte leise. »Dann kam der Winter 2005. Ich hatte einen Schlaganfall, konnte monatelang nicht arbeiten. Meine Frau war verzweifelt – wir hatten zwei Kinder im Studium, die Rechnungen türmten sich. Eines Tages stand Döge vor der Tür. Er hatte von meiner Situation gehört und bot an, meine laufenden Aufträge zu übernehmen – aber unter meinem Namen und zu meinen Preisen. Er und Krieger arbeiteten Tag und Nacht, um mein Geschäft zu retten.«
Gustav schwieg einen Moment. »Und seitdem arbeiten Sie zusammen?«
»Nicht sofort. Aber es hat uns gelehrt, dass wir gemeinsam stärker sind als allein. Die Handwerkskunst überlebt nur, wenn wir sie teilen und weitergeben.«
Am letzten Tag stand Krieger, der jüngste der drei Malermeister, auf einer Leiter und befestigte den Vorhang wieder an der frisch gestrichenen Wand, als er Gustav bemerkte, der ihn vom Türrahmen aus beobachtete.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Neumann?«
»Die Risse werden wiederkommen, nicht wahr?«, fragte Gustav. »Das mit dem Fundament.«
Krieger nickte langsam. »Ja, in ein paar Jahren vielleicht. Alte Häuser arbeiten ständig, besonders wenn sie auf dem lehmigen Boden stehen, wie hier in der Altstadt. Aber wir haben eine elastische Spachtelmasse verwendet, die kleine Bewegungen ausgleichen kann. Und ich habe Ihrer Tochter einen Kontakt zu einem guten Statiker gegeben, nur für den Fall.«
Gustav trat näher. »Also ist alles, was Sie tun, nur vorübergehend?«
Krieger kletterte von der Leiter und stellte sie beiseite. Er war ein durchtrainierter Mann mit einem offenen Gesicht. Jünger als Döge und Hilgers, aber mit der gleichen Ruhe in seinem Wesen.
»Leben ist vorübergehend, Herr Neumann«, sagte er mit einem leichten Lächeln. »Aber das heißt nicht, dass es nicht schön sein kann, während es dauert.«
Gustav musterte den jungen Mann. »Sie haben Philosophie studiert?«
»Nein, aber mein Vater war Pfarrer. Und im Malerhandwerk lernt man schnell, dass nichts von Dauer ist. Farben verblassen, Wände reißen, Moden ändern sich. Die Schönheit liegt im Prozess, nicht im Ergebnis.«
Gustav nickte langsam. Er spürte, wie ein lange vermisstes Gefühl in ihm aufstieg – die intellektuelle Neugier, die ihn sein Leben lang begleitet hatte und die in den letzten Jahren unter der Asche der Routine verschüttet gewesen war.
»Und was würden Maler Döge, Malerbetrieb Hilgers und Malermeister Krieger sagen, wenn ich sie bitten würde, nächstes Jahr wiederzukommen? Um die Farben zu ändern?«
Krieger lächelte breit. »Wir würden fragen, welche Bücher Sie in der Zwischenzeit gelesen haben, und welche Farbe sie in Ihnen hinterlassen haben.«
Als Marie zwei Tage später aus Amerika zurückkehrte, betrat sie zögernd die Wohnung ihres Vaters. Sie hatte mit Widerstand gerechnet, mit Vorwürfen, vielleicht sogar mit der typischen Sturheit, die in den letzten Jahren ihre Gespräche geprägt hatte.
Stattdessen fand sie Gustav an seinem Schreibtisch sitzend, umgeben von Büchern – aber nicht den alten, verstaubten Klassikern, die er immer wieder las, sondern neuen Bänden mit glänzenden Covern.
»Du hast neue Bücher gekauft?«, fragte sie erstaunt.
Gustav blickte auf und lächelte – ein echtes Lächeln, das seine Augen erreichte. »Ja. Und ich habe drei bemerkenswerte Handwerker kennengelernt, die mehr über Leben und Literatur wissen als manche meiner früheren Kollegen.«
Marie schaute sich um und sah die Wohnung mit neuen Augen. Die Farben, die sie hastig aus einem Katalog ausgewählt hatte, hatten unter den Händen der drei Malermeister eine Tiefe und Lebendigkeit gewonnen, die den Raum völlig veränderte. Das Licht schien anders zu fallen, wärmer, einladender.
»Es ist wunderschön geworden«, sagte sie leise.
»Ja«, stimmte Gustav zu. »Und weißt du, was der junge Krieger mir gesagt hat? ‚Die Schönheit liegt im Prozess, nicht im Ergebnis.‘ Ich glaube, ich muss noch einmal anfangen zu leben, Marie. Solange die Farbe noch frisch ist.«
Marie trat zu ihrem Vater und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Dann solltest du vielleicht mit mir nach New York kommen. Nur für ein paar Wochen.«
Gustav legte seine Hand auf ihre. »Vielleicht. Aber vorher möchte ich die drei Farbentänzer zum Abendessen einladen. Sie haben mir mehr gegeben als nur neue Wände.«
Auf dem Tisch lag ein Notizbuch, aufgeschlagen und mit Gustavs präziser Handschrift gefüllt. Oben auf der Seite stand ein Titel: »Die Farbentänzer von Hilden – eine Studie über Handwerk als Metapher für literarisches Schaffen.«
Marie lächelte. »Eine neue Vorlesung?«
»Ein neues Buch«, korrigierte Gustav. »Mit drei Protagonisten: Maler Döge, Malerbetrieb Hilgers und Malermeister Krieger.«